Im März 2018 gab das KI-Start-up Kensho™ 3 seine Übernahme für 550 Millionen US-Dollar bekannt – die bis dato weltweit größte KI-Akquisition (Business Insider 8. März 2018). Allein die Größe dieser Transaktion überrascht. Noch ungewöhnlicher war jedoch, dass sie im Finanzsektor stattfand.
KI oder Schlagworte wie „Deep Learning“ und „neuronale Netze“ sind – unabhängig von Branche und Fachgebiet – in aller Munde. Ob Bild- und Spracherkennung, Sprachverarbeitung oder gezielte Werbung, KYC4 oder Wirkstoffentdeckung – künstliche Intelligenz kommt überall dort zum Einsatz, wo modellierbare Merkmale aus großen Datensätzen extrahiert werden.
Künstliche neuronale Netze, die für den Aufbau komplexer funktionaler Zusammenhänge verwendet werden, sind in der Lage, eine allgemeine Funktion einer n-dimensionalen reellen Variablen mit einem bestimmten Genauigkeitsgrad unter Verwendung eines „hidden layers" und einer Sigmoid-Aktivierungsfunktion (technische Formulierung: Universal Approximation Theorem, vgl. Cybenko [1989]) darzustellen. Darin liegt ihre besondere Stärke. Die Gewichte der Netze sind unbekannt und müssen über einen „lernenden“ Algorithmus berechnet werden. Für viele Anwendungen werden jedoch komplexere neuronale Netzkonfigurationen verwendet, darunter sogenannte Deep Networks, Recurrent Networks sowie Convolutional Networks.
Es überrascht nicht, dass in jüngster Zeit neuronale Netze auch vermehrt in die Finanzmathematik Einzug halten. Hier können sie – bei gleichbleibender oder sogar verbesserter Genauigkeit der Ergebnisse – rechenintensive Algorithmen ersetzen. Hierauf ist auch die oben erwähnte und bislang größte KI-Akquisition zurückzuführen.
Die Entwicklung effizienter numerischer Algorithmen für hochdimensionale partielle Differentialgleichungen (PDEs) gehört beispielsweise zu den schwierigsten Aufgaben in der angewandten Mathematik. Physiker und Mathematiker wissen, dass die Schwierigkeit im „Fluch der Dimensionalität“ liegt: mit zunehmender Dimensionalität wächst die Komplexität der Algorithmen exponentiell.
Ein bekanntes Beispiel für diese Art von hochdimensionalen Problemen in der Finanzmathematik ist die Bewertung einer Bermudan-Swaption im Libor-Marktmodell. Die jüngsten Forschungsergebnisse von Weinan et al. [2017] weisen darauf hin, dass man eine solch hochdimensionale PDE in eine stochastische Rückwärts-Differentialgleichung (BSDE = backward stochastic differential equation) umformen und anschließend das Problem mit Hilfe eines Deep-Learning-Algorithmus angehen kann.
Als Softwareanbieter mit einem langjährigen, stabilen Kundenstamm in Deutschland und Asien hat die pdv Financial Software GmbH jetzt eine eigene Version eines Deep-Learning-Ansatzes zur Bewertung von Bermudan-Swaptions im Libor-Marktmodell entwickelt (wie von Wang et al. [2018] vorgeschlagen).
Dieser Algorithmus wurde bereits in DECIDE5, der modernen Softwareplattform von pdv Financial Software GmbH, implementiert. Hier zeigt sich, dass dieser auf einem neuronalen Netz basierende Ansatz in der Tat viel schneller Ergebnisse liefert, als das regressionsbasierte Verfahren von Longstaff-Schwartz (der gegenwärtige „Goldstandard“ für die Bewertung von Bermudan-Swaptions) – und das bei gleicher Genauigkeit der Resultate. Eine weitere neue Anwendung künstlicher neuronaler Netze, die wir in naher Zukunft in DECIDE einbetten möchten, ist das SABR-Modell für stochastische Volatilitäten (eingeführt von Hagan et al. [2002]).
Die ursprüngliche Approximation, die im SABR-Modell und seinen Erweiterungen entwickelt wird, kommt bei zahlreichen Finanzinstituten häufig zum Einsatz und deckt dabei zahlreiche Anlageklassen ab. Das zugrundeliegende Modell kann vollständig mittels einer Zwei-Faktor-Finite-Differenzenmethode dargestellt werden. Daraus ergeben sich aber bereits eine Reihe von Implementierungsproblemen, ganz abgesehen davon, dass dieses Vorgehen performancetechnisch unpraktikabel ist. Daher wurde auf immer ausgefeiltere Approximationen zurückgegriffen.
Es hat sich gezeigt, dass ein alternativer Ansatz unter Verwendung künstlicher neuronaler Netze (McGhee [2018]) robust und sehr genau arbeitet. Für die Berechnung wird nur ein Bruchteil der Zeit benötigt, die bestehende genaue Verfahren in Anspruch nehmen.
Der Umgang mit Modellrisiken im Bereich der Bewertungsanpassung (Valuation Adjustments, zusammengefasst unter dem Begriff xVA) ist das nächste aktuelle Thema, das wir mit KI angehen werden. Angesichts des stetigen Anstiegs bilateraler Transaktionen und dem daraus resultierenden Wachstum des OTC-Markts gewinnt xVA zunehmend an Bedeutung. CVA6, FVA7 und KVA8 werden bereits täglich verwendet und MVA9 wird zukünftig bedeutsam werden. Damit wird xVA zu einem der wichtigsten Bewertungskriterien bei OTC-Geschäften.
Bisher bestehen xVA-Bibliotheken aus komplizierten Berechnungsinfrastrukturen, die mit einem hohen Modellrisiko behaftet sind. Um zu prüfen, ob sich die Algorithmen konsistent verhalten, setzen wir bei DECIDE auf künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen, beispielsweise für die Ermittlung instabilen Modellverhaltens oder Benchmarking auf Basis von Deep Reinforcement Learning.
Da DECIDE sich bei unseren Kunden im produktiven Einsatz befindet, sollte es unserer Meinung nach nicht nur die Standardmodelle für den täglichen Gebrauch bereitstellen, sondern auch die neuesten Ergebnisse der aktuellen Forschung nutzen.
1 pdv Financial Software GmbH
2 Physiker & Finanzmathematiker, Freiberuflicher Berater
3 Ein Unternehmen der S&P Global-Gruppe
4 Know Your Customer
5 DECIDE unterstützt Banken, Broker und Börsen als moderne Standard-End-to-End-Softwareplattform.
6 Credit Valuation Adjustment
7 Funding Valuation Adjustment
8 Capital Valuation Adjustment
9 Margin Valuation Adjustment